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Leben, denken und kämpfen in einer komplexen Konjunktur

Leben, denken und kämpfen in einer komplexen Konjunktur
Julio Carranza*, 12. Juli 2021

Geschichte ist etwas Permanentes. Aber es gibt definierende Momente, in denen die Geschichte ihre Widersprüche verdichtet und die Ereignisse sich überstürzen. Manchmal in Richtung Fortschritt, manchmal in Richtung Rückschritt. Die Faktoren, die zu diesen Momenten führen, sind vielfältig. Das Beste ist es, diese Augenblicke so bewusst wie möglich zu leben. Und die eigenen Anstrengungen einzubringen, um dazu beizutragen, dass der Sturm sich in die für richtig eingeschätzte Richtung bewegt. Dies ist die Herausforderung für die Menschen, die sich einem bestimmten Weg der Geschichte verpflichtet haben. Jede Person trägt die Verantwortung und die Konsequenzen ihrer Handlungen.

Seit längerem haben viele von uns auf die Dringlichkeit hingewiesen, bei den Veränderungen, die Kuba braucht, voranzukommen. Schließlich transformierten sich die in kontroversen akademischen Texten „integrierten“ Vorschläge in Vereinbarungen von Gesellschaft und Regierungspartei – nicht in ihrer Gesamtheit, aber in ihrer Essenz. Beispiele sind die neue Verfassung und das konzeptionelle Dokument [Anm. d. Ü: des 7. Kongresses der Kommunistischen Partei Kubas im Kontext des Nationalen Plans für Wirtschaftliche Entwicklung bis 2030], um nur zwei Schlüsseltexte zu nennen. Diese bedeutenden Vereinbarungen vollständig mit Leben zu füllen, ist ein Imperativ. Dies gilt umso mehr inmitten der außerordentlichen Komplexität der gegenwärtigen Situation und angesichts der bereits verlorenen Zeit.

In verschiedenen meiner Texte habe ich unter anderem zwei Gedanken verfochten: 1. Die notwendigen Veränderungen (tausendmal dargelegt und diskutiert) sind auch eine Angelegenheit der nationalen Sicherheit. 2. Die Zeit ist eine kritische Variabel.

Wie die jüngsten Ereignisse zeigen, ist die Lage sehr komplex. Die Auswirkungen der Pandemie schränken die Handlungsspielräume stark ein. Aber trotz dieser Situation und der zerstörerischen Blockade ist es erforderlich, mit Fantasie, Mut, Flexibilität und Entschlusskraft zu agieren. Wenn jemand versichert, für die Veränderungen gebe es keine Mittel, dann ist die Antwort: Unter anderem genau deswegen ist es erforderlich, bei den Veränderungen voranzukommen, um Mittel zu erhalten.

Einer der wichtigsten Schlüssel für die augenblickliche Situation liegt in der Wirtschaft. Das derzeitige Wirtschaftssystem hat sich überlebt. Es beschränkt die produktiven Kapazitäten der Gesellschaft und muss reformiert werden. Dies ist eine Wahrheit, die inzwischen (zumindest formal) genauso eindeutig eingestanden wird wie sie früher zurückgewiesen wurde. Doch Fortschritt und Umfang der Reform sind noch unzureichend. Zweifellos existieren interne Kräfte und konservative Interessen, die sich ihr widersetzen. Der Präsident der Republik hat selbst bei mehr als einer Gelegenheit in der einen oder anderen Form nachdrücklich darauf hingewiesen.

Das Problem, dessen Wurzel in der Wirtschaft liegt, lässt sich jedoch nicht auf diese reduzieren, und zwar immer weniger. Es ist notwendig, die Unzufriedenheit der Menschen zu verstehen. Sie sind müde angesichts der enormen Schwierigkeiten des Alltagslebens. Das gilt unabhängig von den zugrundeliegenden Ursachen, die durch eine systematische sowie immer offensichtlichere und zunehmend notorische Aggression verschärft werden. Die erwähnte Unzufriedenheit zu erhöhen, ist das Hauptziel dieser gegen das Land gerichteten Aggression.

Die Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade der US-Regierung ist nicht für alles verantwortlich, aber sie beeinträchtigt alles. Sie hat einen mörderischen, kriminellen und opportunistischen Charakter. Von einer so immensen Macht kommend, inmitten einer so komplexen Situation wie der aktuellen Pandemie, zeigt sie Resultate. Wird nicht genau darauf abgezielt? Ist die Blockade nicht genau für diese Situationen gedacht? Wird nicht auf die Dauerhaftigkeit dieses Zustandes abgezielt? Sollen etwa nicht alle Schwierigkeiten potenziert, die Unzufriedenheit verallgemeinert, die ökonomische Krise in eine politische Krise verwandelt werden, die das „Regime“ beendet, um ein anderes System einzuführen, das den externen Interessen gefügig ist? Genau darum geht es. Aber es ist nicht etwa so, dass dies jemand erfindet oder sich vorstellt. Es handelt sich um eine bereits vor sechs Jahrzehnten initiierte, beschriebene und erklärte Politik. Die Herausforderung lag immer darin, die Blockade in ihrem Hauptziel zu neutralisieren. Die Herausforderung ist heute dieselbe, aber nun unter Umständen, die aufgrund vieler Motive komplexer sind.

Die simultanen öffentlichen Proteste vom 11. Juli an verschiedenen Orten des Landes sind zweifellos Teil einer vernetzten Aktion gegen die Regierung, das ist mehr als offensichtlich. Aber die Proteste beruhen auf realer, objektiver Unzufriedenheit, auf den Alltagsproblemen und Mangelsituationen verschiedenster Art. Auch wenn diese zu einem Großteil eine externe Ursache haben, sind sie aber doch auch Ergebnisse eigener Unzulänglichkeiten. Eine vereinfachte oder einseitige Lesart dieser Ereignisse wäre ein Fehler. Die Aggression [durch die Blockade] existiert, sie ist heftig und pervers. Doch ebenso gibt es nicht wenige eigene Fehler und Schwächen.

Ich habe es bereits erwähnt, der Augenblick verlangt Fantasie, Mut, Flexibilität, Entschlossenheit und politisches Gespür. Zuhören und Dialog mit allen Personen, bei denen es Sinn macht. Gleichzeitig darf es nicht einen Millimeter Raum für die pro-imperialistische Reaktion geben. Ebenso ist die Selbstkritik angebracht. Ich wiederhole: Die Blockade beeinträchtigt alles, ist aber nicht für alles verantwortlich.

Es gibt Versäumnisse und Stillstände, für die nun die Rechnung präsentiert wird. Dies muss ehrlich und kritisch eingestanden werden. Kuba hat sich angesichts der gewaltigen und überall zuschlagenden Pandemie außerordentlich bravourös behauptet. Seine Wissenschaftler*innen haben wirksame Impfungen entwickelt und dabei unter den denkbar schlimmsten Bedingungen gearbeitet. Die Labors mussten arbeiten, als ob sie sich in einem Schützengraben befänden. Ohne über die minimalen Mittel zu verfügen, die sonst jede*r Wissenschaftler*in in der Welt zur Hand hat. Ein Land, das dies durchsteht - und zuvor schon so viele Dinge erreicht hat - darf nicht unterschätzt werden.

Dennoch ist dies nicht ausreichend, wie die Ereignisse zeigen. Die Pandemie ist der Impfwirkung vorausgeeilt, in einigen Landesteilen auf exponentielle Weise. Es wird versucht, dieser Entwicklung mit allen vorhandenen Mitteln entgegenzutreten. Trotzdem hat es Bilder von überfüllten Krankenhaussälen mit schwer zumutbaren Bedingungen für die Patient*innen gegeben. Ich glaube, im Rahmen des Möglichen und unter gebührender Abwägung, müssen angesichts dieser Lage weiterhin alle verfügbaren Ressourcen eingesetzt werden.

Die Provinz Matanzas gehört beispielsweise zu den am stärksten betroffenen Gebieten. Gleichzeitig hat sie das umfassendste Hotelangebot im Land. Ein Teil dieser Hotels könnte eine Funktion als vorübergehende, kostenlose Krankenhäuser für die kranken Personen erfüllen, ohne dass der Tourismus bei aller gebotenen Vorsicht vollständig eingeschränkt werden müsste. Aus der jüngsten Erklärung der Regierungsspitze wissen wir, dass die Umsetzung dieser Idee begonnen hat.

Ohne den geringsten Raum für die demagogische und zynische „Hilfe“ zu lassen, die von denselben Personen propagiert wird, die die Blockade unterstützen, könnten wir zu noch größerer internationaler Solidarität einer Welt aufrufen, die Kuba moralisch so viel schuldet.

Ich plädiere ebenso dafür, innovative Geschäftsideen zu suchen, um das Warenangebot in den (hoffentlich vorübergehenden) Devisenläden [die sogenannten MLC-Geschäfte, Verkaufsläden mit frei konvertierbarer Währung] zu erhöhen, um im Gegenzug ein vernünftiges Versorgungsniveau in den Geschäften aufrecht zu erhalten, in denen mit nationaler Währung bezahlt wird. Dies gilt vor allem für Lebensmittel und Güter des Grundbedarfs. Sollten etwa keine chinesischen Großkonzerne existieren, die an einem Zugang zum kubanischen Binnenmarkt interessiert sind, auf dem es erwiesenermaßen Devisen gibt? Die MLC-Geschäfte könnten ihnen für einen bestimmten Zeitraum überlassen werden, wenn sie dafür mit den Gewinnen den in einheimischer Währung abgewickelten Markt versorgen und ein Anteil der zusätzlichen Einnahmen der nationalen Wirtschaft zugutekommt. Bei garantierten Gewinnen und Zahlungen sollte niemand daran zweifeln, dass die Unternehmen mitmachen und die Versorgung sicherstellen. Dazu kommt das logische geopolitische Interesse.

Ich glaube zudem, die Situation erfordert eine taktische Veränderung der aktuellen Investitionspolitik. Dies reicht von den Hotels über die Produktion und den Import von Nahrungsmitteln bis hin zu Medikamenten und dem Notwendigen für die Landwirtschaft. Sollte es Gründe dafür geben, die gegen eine solche Entscheidung sprechen, welche sind es? Das Wichtigste ist, die bereits bis zum Überdruss diskutierte Wirtschaftsreform fortzuführen und dies schnell zu tun. Die Reform wird nicht nur erlauben, mehr zu produzieren, sondern auch eine breitere Produktpalette zu haben. Alles muss angegangen werden, die Pandemie, das entschlossene Vorantreiben der Reform, die Verteidigung der Sicherheit des Landes. Die Lösung darf kein Stückwerk sein, sie ist integral. Der strategische Teil der Transformation muss Hand in Hand gehen mit den Dringlichkeiten der Konjunktur. Das ist schwierig und komplex, aber nicht unmöglich.

Um kurz abzuschweifen: In diesen Tagen ist angesichts seines runden Jubiläums viel über den als „Worte an die Intellektuellen“ bekannten Diskurs von Fidel aus dem Jahr 1961 gesprochen worden. Natürlich muss jedes historische Ereignis unter seinen spezifischen Bedingungen analysiert werden, doch gleichfalls in seiner Tragweite, die über den Moment hinausgeht. In diesem Sinn möchte ich hervorheben, dass die damaligen Worte Fidels meiner Meinung nach nicht ausschließlich an die Intellektuellen gerichtet waren und nicht ausschließlich der Definition der Kulturpolitik galten. Es handelt sich um einen politischen Diskurs, der sich auf den revolutionären Prozess allgemein bezieht. Er beinhaltet eine wichtige Lektion für die Politik und die ideologische Politik insgesamt: Nämlich, „nur dem unbelehrbar Konterrevolutionären abschwören“, - ich würde dem unbelehrbaren Pro-imperialistischen hinzufügen“ -, „innerhalb der Revolution alles, gegen die Revolution nichts“ und weitere Definitionen, denen ein umfassendes politisches Konzept innewohnt. Ohne ideologische Engstirnigkeiten und Extreme streben diese Definitionen danach, dem revolutionären Prozess den breitestmöglichen Konsens in der Bevölkerung zu sichern. Natürlich erwähnt Fidel ebenso das Recht der Revolution, sich selbst und damit die Souveränität des Landes zu verteidigen.

Im Laufe der Zeit und vor allem jüngst haben wir jedoch mehr als einmal selbst in offiziellen Medien eine ausgrenzende Rhetorik gesehen, die kompromisslos und engstirnig die Konzepte angreift, die das breite Fundament des Veränderungsprozesses sein müssten. Wir haben eine Haltung gesehen, sich jeder auch nur geringfügig kritischen Position zu verschließen und sie zu stigmatisieren. Sie mag berechtigt sein oder nicht (oft ist sie es), aber auf jeden Fall bildet sie einen legitimen Bestandteil der gesellschaftlichen Meinung.

Das schließt den umfassenden Teil der Gesellschaft ein, der weder unbelehrbar konterrevolutionär, noch pro-imperialistisch und nicht einmal pro-kapitalistisch ist.

Ich glaube, dies ist kein vernachlässigbares Detail. Für die Zukunftsfähigkeit jeder Revolution ist der Konsens unabdingbar. Dies gilt umso mehr für die kubanische Revolution, die auf einer kleinen Insel, ohne ausreichende Ressourcen und ohne wichtige internationale Bündnisse verortet ist, und die außerdem eine feindlich gesinnte und monströse (aufgrund von Größe und Verhalten) Macht in der Nachbarschaft hat. Der Konsens ist für sie so notwendig wie der Sauerstoff zum Leben. Doch er wird nicht mit Hammerschlägen geschmiedet. Dies gilt umso mehr angesichts der komplexen Zustände der gegenwärtigen Welt, der neuen Generationen im politischen Alter, der Druckwelle, die das Debakel des Sozialismus in Europa ausgelöst hat, sowie der manipulierenden Auswirkung der sozialen Netzwerke.

Neben der Bereitschaft, sich der perversen und asymmetrischen Aggression, der das Land ausgesetzt ist, intellektuell und physisch entgegenzustellen, ist genauso die Öffnung für einen Dialog notwendig, der sich breiter, inklusiver, konstruktiver, und wenn angebracht, selbstkritischer gestaltet. Hochmut darf nicht mit Entschlossenheit verwechselt werden, Selbstherrlichkeit nicht mit der bestehenden legitimen Stärke. Was die Modelle angeht, ist mehr als belegt, dass es keine absoluten Gewissheiten gibt. Wenn der Zusammenbruch des europäischen Sozialismus zu etwas nütze war, dann dazu. Haben wir die Lektion gelernt? Diese Frage müssen wir uns tagtäglich stellen.

Wir haben nur einige Grundgewissheiten: Die Souveränität der Nation ist unverzichtbar. Soziale Gerechtigkeit ist ein einer Revolution absolut inhärenter Wert, „wenn sie wahrhaftig ist“. Ein Wirtschaftssystem, das Entwicklung, Fortschritt und materiellen Wohlstand fördert, ist unentbehrlich. Andernfalls wäre die Revolution nur ein Trugbild ohne Zukunft. Im Falle Kubas ist der Sozialismus die einzige Option, die dies garantieren kann. Wir müssen das Handeln auf unserer eigenen Geschichte aufbauen. Bis zu diesem Punkt die Gewissheiten. Alles andere, die Zielerreichung, die Wege, die Formen, die Routen, die zielgerichtete Politik für das alles, ist Teil der Ungewissheiten. Diese müssen konfrontiert, diskutiert, gelöst werden – ohne Dogmen, dafür inklusiv, erkenntnisorientiert, mit kritischer Ausrichtung. Ich bestehe darauf: Hochmut und Selbstherrlichkeit sind Kinder der Ignoranz und der Beschränktheit. Sie helfen wenig auf diesem Weg, es sei denn, in umgekehrter Richtung.

Ich bin damit einverstanden, dass es Momente gibt, die Definitionen erfordern, in denen klar sein muss, auf welcher und an wessen Seite wir stehen. Oder, um es anders auszudrücken: Auf welcher oder an wessen Seite wir niemals stehen werden. Vor diesem Dilemma hat Kuba seit Jahrhunderten gestanden, seit der Epoche des „alten“ Annektionismus [politische Strömung 1845-55] bis hin zum stets minoritären „modernen“ und „postmodernen“ Annektionismus. Dieser hat überlebt und wird auf der anderen Seite der Meerenge mit seinen erbärmlichen örtlichen Ausprägungen und Finanzmitteln wieder stärker angeheizt. In diesem Fall darf es meiner Meinung nach weder Unklarheit noch Zweideutigkeit geben, es ist notwendig, die Geschichte zu kennen.

Was jüngst geschehen ist, ist ein Weckruf. Wir müssen die Souveränität verteidigen, aber vor allem darüber reflektieren, welchen Weg wir weiter beschreiten können und müssen. Dabei müssen wir, immer im Rahmen des Projektes der Nation (Souveränität, soziale Gerechtigkeit, wirtschaftliche und demokratische Entwicklung) so inklusiv wie möglich sein. Geografie und Geschichte haben unsere kleine Insel an einem schwierigen Ort positioniert, um ihr nationales Projekt zu konsolidieren. Sie hat es seit dem 19. Jahrhundert gegen alle Widerstände geschafft. Der erreichte Fortschritt ist enorm und überraschend, aber der Weg ist weder zu Ende noch unumkehrbar. Wir stehen vor den Herausforderungen. Diese
Generation, die Mehrheit dieser Generation, die Besten dieser Generation müssen auf der Höhe der Zeit sein. Es steht viel auf dem Spiel.

*Kubanischer Ökonom und Leiters des UNESCO-Büros in Guatemala.
Spanische Version: "Vivir, pensar y luchar en una coyuntura compleja"

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